Leitartikel Juni | Juli 2023
Türe im Stadtteil Alfama: Lissabon (Foto: Emanuel Memminger)
Von Hemmschwellen und offenen Türen
Früher waren Kirchen in der Regel die höchsten Gebäude einer jeden Gemeinde. Wanderer und Reisende konnten den Kirchturm schon vom Weitem als Wegmarke erkennen, welche den Weg zu einer Unterkunft und einer stärkenden Mahlzeit wies. Dass sich direkt neben der Kirche ein Gasthof befand, der zuweilen sogar vom Pfarrer persönlich betrieben wurde, war im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit keine Seltenheit. Heiliger und profaner Raum, die Bedürfnisse der Seele und des Leibes gingen Hand in Hand.
Doch bereits die Reformation hat hier zwar pointiert, aber vielleicht auch etwas übereifrig eine Wende herbeigeführt. Zurecht erkannten die Reformatoren, dass die Kirche an sich kein heiliger Raum ist, der irgendeine magische Wirkmächtigkeit für die Besucherinnen und Besucher des Gotteshauses bereithielt. Erst durch die Gemeinde, welche darin zum Gottesdienst zusammenkommt, wird der Kirchenraum tatsächlich zum Haus Gottes. Unglücklicher Nebeneffekt dieser Erkenntnis: Ab nun waren evangelische Kirche nur noch zum Gottesdienst geöffnet und blieben den Rest der Woche verschlossen.
Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben Kirchgemeinden landauf, landab erkannt, dass damit das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden ist. Der Kirchenraum wurde den Menschen fremd, da er in ihrem Alltag verschlossen blieb. Alltägliche Rituale wie das stille Gebet in der Kirche oder das Entzünden einer Gebetskerze sind verloren gegangen. Die Hemmschwelle, eine Kirche zu betreten, wurde immer höher. Die Aufgabe, den Menschen die Gotteshäuser wieder lieb zu machen, erweist sich als grosse Herausforderung.
Auch wenn heutzutage viele evangelische Kirchenräume (so auch die drei Kirchen unserer Kirchgemeinde) täglich geöffnet sind, werden sie leider selten zur persönlichen Andacht genutzt. Es braucht mehr als bloss offene Türen, damit diese Räume den Menschen wieder ans Herz wachsen. Ein Versuch, die Kirchenräume wieder mitten im Alltag attraktiv zu machen, stellt die «Lange Nacht der Kirchen» dar, welche am 2. Juni bereits zum vierten Mal in der Schweiz stattgefunden hat. Tradition und Experiment, Gewohntes und Ungewohntes – alles hat hier Platz. Der Kirchenraum soll wieder zum Ort werden, der mitten ins Leben hineingehört. Denn dort ist es unserem Gott am wohlsten. Nicht in abgesonderten heiligen Räumen, sondern da, wo sich die Freuden und Sorgen der Menschen ereignen, wo das Leben gefeiert und der Schmerz betrauert wird. Da will Gott sein und uns in frohen und in schweren Stunden begleiten. Ich wünsche mir, dass unsere Kirchen zu Orten werden, wo genau das immer wieder erlebbar wird.
Emanuel Memminger, Pfarrer