Leitartikel Juli 2025
Selfie-Time im Louvre
Kunstbetrachtung im Zeitalter der sozialen Medien. Eine riesige Menschenmasse hat sich vor der «Mona Lisa» versammelt. Doch was auffällt: Kaum jemand betrachtet das berühmte Kunstwerk direkt. Praktisch alle haben ihre Handys gezückt, versuchen entweder aus der Masse heraus ein gutes Foto der lächelnden Dame zu schiessen oder verewigen sich gleich selber als Selfie vor dem berühmten Bild.
Ein ganz normaler Sonntag im März. Ute und ich haben uns ein Wochenende in Paris gegönnt. Der Louvre mit seiner unglaublichen Anzahl an berührenden Kunstwerken steht auf unserem Reiseprogramm. Während wir in aller Ruhe die Bilder in den riesigen Räumen betrachten, strömen die meisten Besucher nur an einen Ort. Jeder möchte die geheimnisvoll lächelnde Frau sehen, die als berühmtestes Bild der Kunstgeschichte gilt – die Mona Lisa. Doch kaum jemand nimmt sich wirklich Zeit, das Bild zu betrachten. Vielmehr machen sich alle daran, mit ihrem Handy den Beweis zu erbringen, dass sie wirklich da waren. Das Bild selbst scheint ihnen mehr oder weniger egal zu sein.
Mir geht eine biblische Geschichte aus dem Markusevangelium durch den Kopf. Jesus heilt einen Blinden. Dieser kann nun wieder sehen, doch seine Wahrnehmung ist seltsam verzerrt: «Ich sehe Menschen - wie Bäume sehe ich sie umhergehen (Markus 8, 24).» Jesus muss ihm ein zweites Mal die Hände auflegen, damit er richtig sieht. Befindet sich unsere Gesellschaft auch in einer Phase des «verzerrten Sehens»? Können wir einander nur noch durch die «Brille» unseres Handys und der sozialen Medien wahrnehmen. Jesus, denke ich, es wird Zeit, dass du auch uns die Hände auflegst, damit wir einander und die Wunder dieser Welt mit offenen Augen entdecken können.
Bild: Menschenmassen vor der «Mona Lisa» (Foto: Emanuel Memminger)
Emanuel Memminger, Pfarrer