(6) Gedanken zur Berührung

Heilung der blutflüssigen Frau (Foto: Angelika Fleßenkämper)

Unter den Leuten war auch eine Frau, die seit zwölf Jahren an Blutungen litt. Sie hatte ihr ganzes Vermögen für die Ärzte ausgegeben, aber keiner hatte sie heilen können. Sie drängte sich von hinten an Jesus heran und berührte eine Quaste seines Mantels. Im selben Augenblick hörte ihre Blutung auf. Jesus fragte: »Wer berührt mich?« Keiner wollte es gewesen sein. Und Petrus sagte: »Meister, all die Leute umringen und bedrängen dich.« Aber Jesus erwiderte: »Jemand hat mich berührt – denn ich habe gemerkt, dass Kraft von mir ausgegangen ist.« Da wusste die Frau, dass sie es nicht verheimlichen konnte. Zitternd trat sie vor und warf sich vor Jesus nieder. Vor dem ganzen Volk erklärte sie, warum sie ihn berührt hatte und wie sie im selben Augenblick geheilt worden war. Da sagte Jesus zu ihr: »Tochter, dein Glaube hat dich gerettet.«
Lukas-Evangelium 8, 43-48
Karen Hollweg,
Liebe Kirchbürgerinnen und Kirchbürger
Liebe Leserinnen und Leser unserer Homepage

„Bitte legen Sie Ihre Briefe dorthin und treten Sie dann 2 Meter zurück“, sagt die Dame auf der Post und lächelt mich freundlich an. Auch an unseren Kirchentüren in Affeltrangen und Märwil hängt ein Hinweiszettel mit der Bitte, mindestens 2 Meter Abstand voneinander zu halten. „Social distancing“ ist eins der Zauberworte bei den Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Zur Begrüssung schütteln wir uns nicht mehr die Hände, sondern winken einander zu. Vor allem bei älteren Menschen und Menschen aus Risikogruppen achten wir darauf, dass wir sie nicht umarmen oder berühren, um sie vor einer möglichen Ansteckung zu schützen.

All dies ist wichtig und richtig in der Corona-Krise. Und doch: Was bedeutet es für uns persönlich und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn wir auf Berührung verzichten? Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, ist es hilfreich, über den eigenen Umgang mit Berührung nachzudenken. Daher möchte ich Euch zu einer kleinen Meditation einladen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr zwischendurch die Augen schliessen, um intensiv in Euch hinein zu horchen. Und nun könnt Ihr in Eure Erinnerung eintauchen:

Welche Begegnung kommt Euch spontan in den Sinn, in der Ihr Berührung geschenkt habt, in der körperliche Berührung von Euch ausgegangen ist? …
Wie war das für Euch – mit welchen Gefühlen hat sich diese Berührung verbunden? War Euch selbst die Berührung angenehm oder eher nicht? Wart Ihr Euch sicher, dass Euer Gegenüber die Berührung wollte und mochte? Wenn ja, was hat Euch diese Gewissheit gegeben? Oder seid Ihr unsicher geblieben? …
Und gibt es auch eine besondere Situation, die Ihr erinnert, in der Ihr berührt wurdet – wo die Initiative von Eurem Gegenüber ausging? Wie habt Ihr das empfunden? War Euch die Berührung angenehm? Hat die äussere Berührung Euch auch innerlich berührt? Oder wart Ihr erleichtert, als der Moment vorüber war? …
Und nun bitte ich Euch, in Euch hineinzuhorchen, wie es Euch allgemein mit Berührung in Eurem Leben geht: Seid Ihr häufiger in der empfangenden Rolle – Euch berühren zu lassen – oder ergreift Ihr eher die Initiative, so dass Berührung von Euch ausgeht? …
Kommt nun mit Euren Gedanken in die Gegenwart zurück und überlegt einen Moment lang: Wie empfindet Ihr es, wenn Ihr jemanden begrüsst, ohne Euch die Hand zu reichen? Was verändert der fehlende Händedruck? …
Gibt es jemanden, den Ihr gern in den Arm nehmen würdet, bei dem Ihr aber zurzeit darauf verzichtet aufgrund der Coronavirus-Situation? …

Unter den fünf Sinnen nimmt das Berühren/Spüren eine besondere Stellung ein. Wir können zum Beispiel sehen, ohne gesehen zu werden. Wir können hören, ohne gehört zu werden. Aber wir können nicht berühren, ohne berührt zu werden. Unsere Finger, unsere Haut empfängt im Berühren den anderen, seine Haut, seine Finger, etwas von ihm. Berühren ist immer gegenseitig.

Berührung ist kostbar und macht uns zugleich verwundbar. Viele Menschen scheuen Berührung – aus den verschiedensten Gründen. Vielleicht weil sie verletzt wurden, weil sie Angst um sich haben, weil sie auf Abstand hin erzogen wurden oder selbst nie gute Berührung erfahren haben. Und doch sehnt sich unsere Haut, unser Leib und unsere Seele nach wohltuender Berührung, dass wir von Liebe und Zuwendung nicht nur hören, sie nicht nur denken müssen, sondern sie spüren können.

Gott hat uns als Wesen geschaffen, die Sehnsucht nach Berührung haben und Berührung brauchen, um glücklich und erfüllt leben zu können. Schon ein Baby braucht dringend Berührung, sonst verkümmert es innerlich. Gott hat uns diese Möglichkeit, uns gegenseitig zu berühren, als etwas Kostbares geschenkt. Und zugleich ist es wichtig, verantwortlich mit Berührungen umzugehen. Es ist wichtig, wahrzunehmen, wenn mein Gegenüber vielleicht gerade keine Berührung von mir möchte – und auch mich selbst ernst zu nehmen, wenn mir eine Berührung unangenehm ist.

Für mich ist es eine der beklemmendsten Begleiterscheinungen der Corona-Krise, dass sie uns zur Berührungslosigkeit verurteilt. Um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, müssen wir Abstand voneinander halten. In Alterszentren und Spitälern gibt es Besuchsverbote, um die Patientinnen und Patienten zu schützen. Menschen sterben in Einsamkeit und können von ihren Angehörigen nicht begleitet werden. Niemand sitzt an ihrem Bett und hält ihnen die Hand. Trauernde bleiben zurück, ohne dass sie richtig Abschied nehmen konnten. Solche Erfahrungen hinterlassen seelische Wunden.

In der Geschichte von der Heilung der blutflüssigen Frau geht es um Berührung. Jesus wird berührt, und eine Frau erfährt durch diese Berührung Heilung. In der Bibel sind viele Berührungsgeschichten von Jesus überliefert: Jesus herzt und segnet die Kinder, die Menschen zu ihm bringen. Er lässt sein Haupt salben von einer Frau, von einer Sünderin. Er lässt sich küssen von einem Verräter usw. Und dann ist im Lukas-Evangelium diese wunderbare Geschichte von der blutflüssigen Frau, die ganz unbedingt Jesus berühren möchte, weil sie sich viel davon erhofft. Sie erwischt nicht einmal seine Haut, sondern bekommt nur den Saum seines Mantels zu fassen. Aber Jesus spürt sofort, dass da jemand ist, der ihn berührt. Denn Berührung schenkt Kraft und kostet Kraft.

In Jesus ein Stück von Gott zu fassen zu bekommen und dadurch Heilung zu erfahren, Heilsames für Körper und Seele, von dieser Sehnsucht wird die Frau getrieben. Wenn es doch so einfach ginge mit unseren zwischenmenschlichen Berührungen: Menschen durch Berührung zu heilen! Wir sind nicht Jesus und haben keine heilenden Hände. Und doch glaube ich, dass Berührung tatsächlich etwas Heilsames haben kann, wenn wir achtsam mit ihr umgehen, ja dass Gott selbst uns berühren kann in der Begegnung mit anderen Menschen.

Zurzeit müssen wir aufgrund der Corona-Krise auf äussere Berührung weitgehend verzichten. Aber es gibt Möglichkeiten der inneren Berührung, die in dieser Situation auch wohltuend und heilsam sein können. Innere Berührung kann entstehen, wenn wir einander wahrnehmen, einander unterstützen und den gedanklichen Austausch miteinander suchen. Wenn wir einem anderen Menschen deutlich machen, dass wir uns für ihn interessieren, dass es uns nicht gleichgültig ist, wie es ihm geht. Wir können zum Beispiel einander anrufen, einen Brief schreiben – mal wieder richtig mit Tinte und Papier – oder eine kleine Aufmerksamkeit vor die Tür stellen. Unsere Fantasie und Kreativität sind gefragt, dann kann auf eine andere Weise Berührung entstehen – Berührung, die uns hilft, diese Zeit des Abstandhalten-Müssens zu überstehen und zu überbrücken, bis wir einander wieder richtig in die Arme schliessen können.

Und Gott? Auch ihn können wir nicht mit Händen fassen, aber wir können uns innerlich von ihm berühren lassen. Vielleicht finden wir in diesen Tagen die Zeit, die Bibel aus dem Regal zu holen und darin zu lesen, bis uns ein Vers besonders berührt. Oder wir suchen im Gebet vor Gott die Stille und lassen uns berühren von seinem guten Geist.

Hat Gott selbst Sehnsucht nach Berührung? Ich weiss es nicht – ich bin immer gern zurückhaltend damit, allzu genau zu wissen, was Gott denkt und fühlt und will.
Trotzdem finde ich den folgenden Satz der Mystikerin Mechthild von Magdeburg einen schönen Gedanken und will ihn Euch darum noch mit auf den Weg geben: „GOTT hat an allem genug, nur nicht an der Berührung unsrer Seele.“

Schützt Euch gut, hebed Sorg und bleibt gesund!
Herzlich
Eure Pfarrerin Karen Hollweg

15. April 2020
Bereitgestellt: 15.04.2020        Verantwortlich für diese Seite: Cornelia Erne Fässler